BVerfG: Sanktionsregelungen im SGB II teilweise verfassungswidrig
„Der Gesetzgeber kann die Inanspruchnahme existenzsichernder Leistungen an den Nachranggrundsatz binden, solche Leistungen also nur dann gewähren, wenn Menschen ihre Existenz nicht selbst sichern können. Er kann erwerbsfähigen Bezieherinnen und Beziehern von Arbeitslosengeld II auch zumutbare Mitwirkungspflichten zur Überwindung der eigenen Bedürftigkeit auferlegen, und darf die Verletzung solcher Pflichten sanktionieren, indem er vorübergehend staatliche Leistungen entzieht. Aufgrund der dadurch entstehenden außerordentlichen Belastung gelten hierfür allerdings strenge Anforderungen der Verhältnismäßigkeit; der sonst weite Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers ist hier beschränkt. Je länger die Regelungen in Kraft sind und der Gesetzgeber damit deren Wirkungen fundiert einschätzen kann, desto weniger darf er sich allein auf Annahmen stützen. Auch muss es den Betroffenen möglich sein, in zumutbarer Weise die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die Leistung nach einer Minderung wieder zu erhalten.“
Das Bundesverfassungsgericht hatte zu entscheiden, ob die Regelungen in § 31 Abs. 1, § 31a Abs. 1 und § 31b Abs. 1 SGB II mit dem Schutz der Menschenwürde aus Artikel 1 des Grundgesetzes vereinbar sind. § 31 Abs. 1 SGB II https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_2/__31.html legt Mitwirkungspflichten fest, die erwerbsfähige Erwachsene erfüllen müssen, um ihre Hilfebedürftigkeit zu überwinden oder zu verhindern. Nach § 31a Abs. 1 SGB II https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_2/__31a.html mindert sich das Arbeitslosengeld II bei einer Verletzung dieser Pflichten in einer ersten Stufe um 30 % des maßgebenden Regelbedarfs. Bei der ersten wiederholten Pflichtverletzung mindert es sich um 60 % des Regelbedarfs. Und bei jeder weiteren wiederholten Pflichtverletzung entfällt das Arbeitslosengeld II vollständig. Nach § 31b Abs. 1 SGB II https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_2/__31b.html beträgt der Zeitraum der Minderung drei Monate.
Die Regelungen in § 31 Abs. 1 SGB II sind laut Bundesverfassungsgericht mit dem Grundgesetz ver-einbar, soweit sie erwerbsfähige Erwachsene zu einer „zumutbaren Mitwirkung“ verpflichten, um ihre Hilfebedürftigkeit zu überwinden oder zu verhindern.
Das Bundesverfassungsgericht hält die Minderung um 30 % in der ersten Stufe – und insoweit § 31a Abs. 1 SGB II – unter bestimmten Umständen für grundsätzlich verfassungsgemäß.
Eine Leistungsminderung darüber hinaus – also um 60 % oder 100 % – und in Härtefällen ist dagegen grundrechtswidrig. Das hat bis zu einer neuen gesetzlichen Regelung folgende Konsequenzen:
„Bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung bleibt die – für sich genommen verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende – Leistungsminderung in Höhe von 30 % nach § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II mit der Maßgabe anwendbar, dass eine Sanktionierung nicht erfolgen muss, wenn dies im konkreten Einzelfall zu einer außergewöhnlichen Härte führen würde. Die gesetzlichen Regelungen zur Leistungsminderung um 60 % sowie zum vollständigen Leistungsentzug (§ 31a Abs. 1 Sätze 2 und 3 SGB II) sind bis zu einer Neuregelung mit der Maßgabe anwendbar, dass wegen wiederholter Pflichtverletzung eine Leistungsminderung nicht über 30 % des maßgebenden Regelbedarfs hinausgehen darf und von einer Sanktionierung auch hier abgesehen werden kann, wenn dies zu einer außergewöhnlichen Härte führen würde. § 31b Abs. 1 Satz 3 SGB II zur zwingenden dreimonatigen Dauer des Leistungsentzugs ist bis zu einer Neuregelung mit der Einschränkung anzuwenden, dass die Behörde die Leistung wieder erbringen kann, sobald die Mitwirkungspflicht erfüllt wird oder Leistungsberechtigte sich ernsthaft und nachhaltig bereit erklären, ihren Pflichten nachzukommen.“
Zu den Folgen für die Beratungspraxis: Thomé-Newsletter 41/2019 und https://tacheles-sozialhilfe.de/fa/redakteur/Aktuelles/Beratungsrechtliche_Folgen_BVerfG_10.11.2019.pdf https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2019/bvg19-074.html